Der
7.000-Seelen-Ort Bad Kötzting liegt malerisch zwischen dichten Wäldern
am Ufer des Weißen Regens: Bayern-Barock und Fachwerk-Idylle. Im Süden
erheben sich die Gipfel des Bayerischen Waldes, im Osten und Norden sind
es nur wenige Kilometer bis zur tschechischen Grenze. Die Menschen in
der Gegend halten zusammen, Tradition und Ordnung sind für sie wichtig –
selbst für die wenigen Rebellen.
Eines Nachts Ende Mai verprügeln hier zwei
Polizisten eine Gruppe Punks. Drei der Jungs werden im Krankenhaus
landen, einer muss notoperiert werden. Seitdem rechnen sie jeden Morgen
auf dem Weg zum Briefkasten damit, dass darin eine Anzeige liegt, wegen
Widerstand gegen die Staatsgewalt und versuchter Gefangenenbefreiung.

Sie trauen sich
bisher nicht, einen Anwalt zu nehmen und juristisch gegen die Beamten
vorzugehen. Und sie bestehen darauf, dass ihre Geschichte hier nur
anonym erzählt wird. Denn sie haben Angst vor dem Getuschel der anderen,
vor Blicken an der Supermarktkasse. Sie fürchten, sie könnten ihre
Arbeit oder ihre Wohnung verlieren, wenn Vermieter oder Chef davon
hören. Sie leben alle gerne hier, sind heimatverbunden, trinken Kaffee
mit ihren Nachbarn und freuen sich über Besuch bei ihren Konzerten. Das
wollen sie nicht aufs Spiel setzen – anderssein und dafür akzeptiert
werden.
Es ist nicht klar, was genau in der Nacht
zum 30. Mai auf der Kopfsteinpflasterstraße hinauf zum Marktplatz von
Bad Kötzing geschehen ist. Dazu gibt es zwei Versionen. Die der Polizei,
welche sich auf eine Pressemitteilung beschränkt, da sie auf
taz-Anfrage auf das laufende Verfahren verweist. Und die Sicht der
mutmaßlichen Opfer sowie einiger Augenzeugen.
Schwarze Lederjacken
Es ist das letzte Wochenende der
Pfingstwoche – des größten religiösen und gesellschaftlichen Events von
Bad Kötzting. Das Brauchtum ist sehr lebendig. In einer Prozession
reiten festlich gekleidete Geistliche mit 900 Trachtenträgern auf
geschmückten Pferden durch die Stadt und tragen dabei ein mannshohes,
goldverziertes Kreuz. Die Lokalzeitung lobt auf einer halben Seite das
Ballkleid der Pfingst-Braut. Spielmannszüge marschieren durch die
Straßen. Am Abend ist Volksfeststimmung.
Unter den Trachtlern und Lederhosen fallen
Franz, Paul, Kai und Hans auf. Sie tragen T-Shirt und Jeans, zeigen
ihre tätowierten Arme und Piercings. Es ist ein warmer Frühsommerabend,
und die Clique setzt sich auf die Terrasse des Horse Town Clubs am
Marktplatz. Die Stimmung ist ausgelassen. Das Bier fließt.
„Wir haben gefeiert und gut getrunken“,
erinnert sich Franz. Um von dem zu erzählen, was in den folgenden
Stunden passierte, will Franz nicht in Bad Kötzting mit einem Reporter
von auswärts gesehen werden: „Das würde jeder mitkriegen, und sofort
wären wir das Dorfgespräch.“ Deshalb haben er und seine Freunde ein
Wirtshaus 20 Kilometer entfernt als Treffpunkt vorgeschlagen. Dass bei
so wenigen Einwohnern trotzdem der Verdacht auf sie fallen kann – dieses
Risiko gehen sie ein, weil sie überzeugt sind, Opfer einer großen
Ungerechtigkeit geworden zu sein.
Es ist gegen halb 3 Uhr morgens auf der
Terrasse des Horse Town Clubs in Bad Kötzing, als die Gruppe zahlt und
sich auf den Heimweg macht. Kaum haben sie die Bar verlassen, kommt es
zu einer Rangelei mit Mitgliedern eines Burschen-Vereins. Schimpfwörter
fliegen, aber keine Fäuste. Paul ist am nüchternsten und schlichtet.
Jede Gruppe zieht ihres Weges. Die Punks wollen bei Kai übernachten.
Franz trödelt hinterher.
„Polizei, Ausweis her!“
Plötzlich stehen da zwei Männer auf dem
Marktplatz. Die Haare haben sie nach hinten gegelt, sie tragen keine
Uniformen, sondern schwarze Lederjacken. Beide steuern zielstrebig auf
Franz zu, packen ihn am T-Shirt und brüllen: „Polizei, Ausweis her!“
„Ich habe so was geantwortet wie: Kann ja
jeder sagen, zeig mal du deinen Ausweis“, sagt Franz. „Das waren keine
von unseren Dorfpolizisten, die sahen überhaupt nicht aus wie Polizei,
beide waren in zivil – und einen Ausweis haben wir nie gesehen“, erzählt
Paul. Woher die Zivilpolizisten stammen, will die Polizei bis heute
nicht sagen.
Statt des Dienstausweises bekommt Franz
eine Ladung Pfefferspray vor die Augen. Grundlos. Er klappt zusammen und
brüllt vor Schmerz. Hans, Paul und Kai bemerken, dass etwas nicht
stimmt. Sie sehen ihren Freund auf dem Boden liegen und wie sich zwei
Gestalten über ihn beugen. Sie glauben, ihr Kumpel werde von ein paar
betrunkenen Festbesuchern aufgemischt. Sie laufen los, Hans vorweg. Ein
Fehler, den er am nächsten Tag auf dem OP-Tisch bezahlen wird.
„Ich bin hingerannt – aus Zivilcourage.
Habe geschrien, was das soll und versucht, den einen von Franz
wegzuziehen“, sagt Hans. „Wenn ich gewusst hätte, dass das Polizisten
sind, hätte ich das nicht gemacht.“ Woher genau der Schlag kommt, sieht
Hans nicht. Eine Hand zerrt an seinem Hinterkopf, während ihm einer der
Polizisten mit einer Maglite-Taschenlampe auf die Stirn drischt.
Zwischen den Augen splittert der Knochen. Hans sackt zusammen.
„Am nächsten Tag im Krankenhaus wurde erst
meine Platzwunde genäht, meine Stirnplatte war eingedrückt. Seitdem habe
ich eine Platte im Kopf. Der Arzt war überrascht, dass ich überhaupt
noch bei Bewusstsein war“, sagt Hans. Vier Tage lag er im Krankenhaus.
Auch drei Wochen nach seiner OP verbirgt er seine blutunterlaufenen
Augen hinter einer breiten Sonnenbrille.
Rätselhafte Verletzung
Soweit die Version der Punks und einiger
Augenzeugen. Im Polizeibericht zur Nacht heißt es dagegen nur: „Im
Verlauf der Anzeigenaufnahme kam es zum Widerstand gegen
Vollstreckungsbeamte mit Körperverletzungen und einer versuchten
Gefangenenbefreiung gegen die ersteinschreitenden Polizeibeamten. Bei
der Schlägerei und dem nachfolgenden Einsatz wurden mehrere Personen,
darunter auch Polizeibeamte, verletzt.“
Wie sich der Polizist verletzt haben kann,
ist für die Gruppe ein Rätsel: „Er ist nicht mal hingefallen, als ich
ihn von Franz wegziehen wollte“, sagt Hans.
Ihr Fall ist nur einer von vielen, bei
denen die bayerische Polizei hart, vermutlich zu hart vorging. Oft
landen nicht die Polizisten, sondern die Opfer auf der Anklagebank: 2009
brechen Polizisten der Spezialeinheit USK Jan A. im Einsatz die Finger,
weil dieser an einer verbotenen Stelle gegrillt hatte. A. wurde zu
1.500 Euro Schmerzensgeld verurteilt. 2010 ringen Polizisten eine
Familie in Rosenheim nieder und bekommen eine Anzeige. 2011 rammen
Beamte eine Dolmetscherin am Münchner Hauptbahnhof gegen die Wand. Die
Polizisten zeigen sie an. 2011 verprügelt der Rosenheimer Polizeichef
einen 15-Jährigen. Teresa Z. ruft 2013 die Beamten zur Hilfe, wird auf
einer Münchner Wache gefesselt und von einem Polizisten ins Krankenhaus
geprügelt.
Das Urteil der Dorfgemeinschaft steht fest
Gruppen wie Amnesty International (AI)
kritisieren seit Langem, dass die Polizei in solchen Fällen gegen sich
selbst ermitteln muss – wenn Aussage gegen Aussage steht. Viele
Verfahren werden eingestellt. In Bayern sei die Situation noch
schlechter als in anderen Bundesländern, stellte AI schon 2011 fest.
Unter anderem öffentlicher Druck führte
dazu, dass Frank W., der Polizist, der Teresa Z. ins Gesicht schlug, zu
zehn Monaten auf Bewährung verurteilt wurde. Im Dienst ist er bis heute.
Doch anders als Teresa Z. können sich die Jungs im Bayerischen Wald
nicht der Unterstützung der Öffentlichkeit, Medien und Zivilgesellschaft
sicher sein. Im Gegenteil.
Das Urteil der Dorfgemeinschaft steht schon
jetzt: „Wenn die Polizei hinlangt, dann trifft es schon die Richtigen,
besonders, wenn die keine Lederhosen tragen. So sieht man das hier“,
sagt Hans. Das gilt vielerorts in Bayern, in den ländlichen Gegenden
ganz besonders: Polizei ist wie Kirche. Sie ist Teil der Ordnung, die
nicht infrage gestellt wird.
Doch immerhin: Die Pfingst-Braut ist unter
den Zeugen von Bad Kötzting. Sie bestätigt die Version der Jungs. Dass
nicht sie die Angreifer waren, sondern die Polizei, und dass diese
äußert brutal gegen die Punks vorging. „Ihr Amt und ihr Wort zählen mehr
als der Landrat“, sagt Kai. Doch ob sie auch mehr zählen als die
Polizei?
http://taz.de/Polizeigewalt-in-Bayern/!5208075/